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Der neue "Pessimismus" (de)

  • bschult3
  • 11. Jan. 2024
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Juli 2024

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich singe für mein Leben gern. Zum Aufstehen, unter der Dusche, beim Kochen oder auf dem Weg zur Tram. Ich habe immer ein Lied im Kopf. Sei es die Neuentdeckung der letzten Tage oder der Introsong einer alten Kinderserie, die mir aus dem Nichts in den Sinn kommt. Ich singe auch gern mit anderen Menschen zusammen, zum Beispiel beim jährlichen Weihnachtsliedersingen mit der Familie oder auch regelmäßiger in einem Chor. Und wie bei so vielen Dingen steht und fällt die Freude am Chorgesang mit der Sympathie zu den Mitsängern, allen voran mit der Persönlichkeit des Chorleiters. Ich hatte das Glück gleich bei meiner ersten Chorerfahrung (damals noch zu Schulzeiten) einen reflektierten und vor Enthusiasmus sprühenden Chorleiter zu haben, der einfach nur begeistert hat und sicherlich nicht nur für mich die Tür zur Welt des Gesangs weit öffnete. Der Mann hatte seine gelegentlichen Wutausbrüche, das muss man schon zugeben, aber vor allem hatte er Charakter. Er hatte eine Meinung und stand dazu. Er hatte Vision. Für ihn war Musik nicht nur ein netter Zeitvertreib, sondern etwas Großes, etwas Magisches, ja etwas Spirituelles. Und diese Leidenschaft hat man gespürt. Bei der vielseitigen, durchdachten, aber immer bedeutungsvollen Liedauswahl, in seinem Umgang mit uns in der Probe, in seinen selbstironischen Witzen.


Auf der Suche nach einem neuen Chor in meiner Studienstadt musste ich feststellen, das diese positive Erfahrung damals nicht selbstverständlich war. Man finde mal einen Chor mit jungen Leuten, in dem Lieder verschiedener Genre gesungen werden, ohne dabei ins Oberflächliche abzurutschen, mit Freude am Gesang und noch dazu geführt von einem Chorleiter mit Expertise und Charakter, einer richtigen Persönlichkeit. Zumindest für mich war dies hier nicht so einfach. Und dann findet man einen Chor, wo man denkt "Der ist es!" und es ergibt sich folgende Szene: Der Chorleiter sucht einen wunderschönen Song aus, den er zuvor bereits in anderen Konstellationen gesungen hat, einen Song mit christlich geprägtem Text (Vater unser), geschrieben in der ostafrikanischen Sprache Kiswahili. Daraufhin meldet sich eine Sängerin zu Wort, sie dabei hätte Bauchschmerzen einen Song mit christlichem Text in einer afrikanischen Sprache zu singen, welcher auch noch für ein Videospiel mit vermeintlich kolonialer Prägung (Civilization) als Themesong genutzt wird. Es folgen verschiedene kurze Wortmeldungen und eine Abstimmung, wer ein Problem damit hätte diesen Song zu singen. 5 von 60 Leuten melden sich. Der Chorleiter entscheidet den Song aus dem Programm zu nehmen, obwohl er das Lied sehr mag. Er möchte kein Lied singen, mit welchem einige Leute ein Problem haben und es nicht mitsingen würden. Und wieder hat es eine kleine, empfindliche Minderheit geschafft ihre Meinung durchzudrücken. Es braucht nur einige Schlagwörter, wie Kolonialismus, Diskriminierung und Solidarität und schon wird gemacht, was ein lauter Bruchteil der Gemeinschaft verlangt. Die große Masse schweigt und lässt es über sich ergehen. Es will ja niemand Konflikt. Dann gibt man eben klein bei und tut die Dinge eben nicht, an denen man eigentlich sehr viel Freude gehabt hätte. Warum es das Problem der großen Mehrheit sein soll, wenn ein paar Leute etwas aus ideologischen Gründen nicht tun wollen, erklärt niemand. Könnten sie bei dem Song nicht einfach schweigen, wenn sie all das so ernst nehmen? Oder könnten sie im Zweifelsfall nicht einfach den Chor verlassen, wenn sie soo große moralische Schwierigkeiten mit den ausgesuchten Lieder haben? Doch könnten sie. Aber das wollen sie nicht, darum geht es ihnen nicht. Es geht um die eigene Überzeugung. Es geht um das Kollektiv. Es geht um Konformität. Nach dem Motto "Wenn du etwas tust, was mir nicht passt, dann hast du dich zu ändern." ist dieses Phänomen mittlerweile allgegenwärtig in westlich-amerikanisch geprägten Gesellschaften, allen voran an den Universitäten und besonders in "links-progressiv" geprägten Städten, wie Freiburg.


Diese kleine Szene aus meinem Chor ist nur ein Beispiel für eine viel größere, allgemeine Strömung innerhalb unserer Gesellschaft. Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht mehr das Individuum für sein eigenes gelingendes Leben und seinen Gefühlszustand verantwortlich ist, sondern das eigene Glück vollständig abhängig ist von der Umgebung, in der wir uns befinden, von den Menschen mit denen wir interagieren. Selbstverantwortlichkeit für das eigene Leben ist für die Vertreter dieser neuen Strömung, die ich hier spaßeshalber "die neuen Pessimisten" nenne, unvorstellbar. Ihrem Denken liegt ein fundamentales Gefühl der Ohnmacht, der tiefgreifenden Abhängigkeit von außen, zu Grunde. Sie leiden und sehen den Grund dafür überall nur nicht bei sich selbst (und ihrer Beziehung zu ihrem Selbst, zu ihrer eigenen Innerlichkeit). Ihr Unglücklichsein ist das Resultat des Fehlverhaltens anderer. Es ist die Folge von Kolonialismus, Rassismus, Kapitalismus, Sexismus, Speziesismus und natürlich Klimawandel. Soweit zu den aktuellen Fehlern der Menschheit. In Zukunft werden die neuen Pessimisten sicher noch weitere, höchst problematische Dinge in der Welt finden. Aber nicht vergessen, das Problem liegt immer bei den anderen, nie bei sich selbst. Und wenn man sich diesen Grundsatz nur oft genug gegenseitig wiederholt, dann gibt es irgendwann auch keinen Zweifel mehr an dessen Wahrheitsgehalt. Und am Ende wissen wir doch alle, dass man im Leben erst dann glücklich sein kann, wenn alle Menschen sind, wie man selbst, wenn alle denken, wie man selbst denkt und niemand etwas sagt oder tut, dass einem nicht passt. Nicht wahr? Dies ist die Konsequenz der Denkweise der neuen Pessimisten, die Konsequenz des Ohnmachtsgefühl, der Idee der vollständigen Abhängigkeit von außen. Klingt nicht gerade tolerant unf vielfältig, oder?


Der neue Pessimismus führt zur Notwendigkeit vollständiger Konformität aller Menschen der Gesellschaft mit der eigenen Meinung. Unterschiedliche Meinungen? Unangenehm. Individuelle Lebensführung? Gefährlich. Humor und Lebensfreude? Ein Ausdruck von Missachtung der Gefühle der Unterdrückten.


Warum aber eigentlich der Begriff "neuer Pessimismus"? Ich verstehe unter Pessimismus eine Lebenseinstellung, die auf das Negative im Leben fokussiert ist, die überall Probleme findet, weil sie nach Problemen sucht, und genau unter dieser ewigen Enttäuschung durch das Leben leidet. Wenn wir von Pessimisten reden, so würden die meisten Menschen schnell zustimmen, dass dies keine besonders konstruktive Lebenseinstellung ist, dass ein pessimistischer Mensch wenig inspiriert und sicher keine Liebe und Freude in die Welt trägt. Wenn wir aber heute über Strömungen, wie Feminismus, Fridays for Future oder Black Lives Matters sprechen fällt es uns viel schwieriger diese Dynamiken als das zu sehen, was sie sind, nämlich pessimistische, lebensfeindliche Grundhaltungen, die, wie beim gewöhnlichen Pessimisten, mit ihrer Einstellung das eigene Unglück erst am Leben halten, ja es in gewisser Weise selbst erzeugen. Was nämlich weder der gewöhnliche, noch der neue Pessimist zu verstehen scheint ist, dass das Glück im Leben nicht abhängig ist davon, was einem widerfährt, sondern davon mit welcher Haltung man sich selbst und dem Leben im Allgemeinen begegnet. Wir haben vielleicht keine Kontrolle darüber, was uns im Leben widerfährt, welche Schicksalsschläge, Überraschungen, Naturkatastrophen oder Erfolge wir erleben. Aber wir haben die Kontrolle darüber, wie wir mit diesen Erlebnissen umgehen. Ob wir uns in unserem Selbstmitleid und unseren Klagen über die Ungerechtigkeit der Welt suhlen oder ob wir trotz allem mit Zuversicht und Liebe in die Welt hinaus gehen. Wir allein haben die Wahl, ob wir "Ja" sagen zum Leben und zu uns selbst oder eben "Nein". Wir entscheiden, ob wir unser kurzes Leben in lebensbejahender oder lebensfeindlicher Weise verbringen wollen.


Aber löst diese subjektive Entscheidung denn die Probleme der Welt? Löst es den Hunger, die Umweltzerstörungen, die Missbrauchsfälle und Gewalt in Luft auf? Vielleicht ja, vielleicht nein... Wer weiß das schon... Ich weiß nur, dass nie ein Mensch etwas in der Welt zum Positiven verändert hat, der dem Leben gegenüber feindlich eingestellt war. Davon bin ich überzeugt. Und wenn ich Recht habe mit dem, worauf es im Leben ankommt, dann löst die lebensbejahende Einstellung vielleicht nicht sofort alle Misstände der Welt in Luft auf, aber sie löst das psychische Leid auf, für welches wir für gewöhnlich die äußeren Probleme verantwortlich machen.


Ich denke, dass dieser Entwicklungsschritt von der rebellischen Opferhaltung hin zu einer Haltung der selbstverantwortlichen, aktiven und von Liebe geleiteten Gestaltung des eigenen Lebens dem psychischen Übergang von Pubertät zum reifen Erwachsensein entspricht. Für mich ist der neue Pessimismus daher nichts anders als der Ausdruck eines kollektiven Pubertätsprozesses, in dessen Zuge gegen alles Alte (die Eltern) rebelliert werden muss, in dem alles als problematisch und falsch angesehen wird, um selbst psychisch Abstand zu erlangen, zu einer Welt, aus der man sich im Sinne des Individuationsprozesses heraus entwickeln will. Kein Wunder also, dass die neuen Pessimisten mit ihren ständigen Wutanfällen, ihrem fehlenden Respekt gegenüber Andersdenkenden und ihrer von der Abhängigkeit der Außenwelt (des Elternhauses) geprägten Wahrnehmung so viele Gemeinsamkeiten mit pubertierenden Teenagern haben.


Aber ist dies nicht alles wieder total bevormundend? So würde es nämlich sicher von den neuen Pessimisten verstanden werden. Ich denke nicht, dass es so ist. Im Gegenteil, ich denke es ist sehr wichtig, dass wir die größeren Zusammenhänge dieser gesellschaftlichen Prozesse als das erkennen, was sie sind. Nur dann können wir auch adäquat mit ihnen umgehen. Denn ich möchte hier kein Bashing des Feminismus oder anderer pubertärer Bewegungen betreiben. Diese Bewegungen haben ihre Berechtigung, genauso wie die Rebellion des Teenagers gegen seine Eltern. Sie sind Ausdruck wichtiger psychischer Entwicklungs- und Befreiungsprozesse und sollten deshalb ihren Raum bekommen. Bedeutet dies, dass alles was Teenager (oder die neuen Pessimisten) fordern sinnvoll ist, dass alles nach ihrer Nase tanzen sollte? Um Himmelswillen, nein. Es sei denn man möchte, dass unsere Gesellschaft im Chaos versinkt... Dann wäre dies wohl der direkteste Weg zum Ziel. Aber Spaß beiseite, was Teenager brauchen, um sich überhaupt so verlieren zu können, ist die Sicherheit und der Rückhalt der erwachsenen Eltern, die mit ihrer Reife und ihrem Verantwortungsbewusstsein den Raum erst aufspannen, in dem die Pubertierenden sich 'kopflos' ausprobieren können. Ein Teenager, der damit beschäftigt ist sein täglich Brot zu verdienen, der auf sich allein gestellt ist, hat gar nicht die Möglichkeit für pubertäre Experimente. Es ist daher kein Wunder, dass dieser pubertäre, neue Pessimismus in einer Zeit und Region der Welt Fahrt aufnimmt, die von einer Phase der ungewöhnlich langen Stabilität und des Wohlstandes geprägt ist. In der westlichen Welt nach Ende des zweiten Weltkrieges und vor allem in den Vereinigten Staaten sind in unserer Elterngeneration Bedingungen der Sicherheit und des finanziellen Reichtums entstanden, die es ihren Kindern nun erlauben (im positiven Sinne der Pubertät) "am Rad zu drehen". Mindestens so wichtig, wie der finanzielle Rückhalt ist aber der idelle Rückhalt. Teenager brauchen Erwachsene, die sie trotz ihres unreifen Verhaltens nicht aufgeben, sondern die weiterhin und unverrückbar an das Entwicklungspotentizal der Jugend glauben.


Mit diesem "Freidrehen" der (psychischen) Jugend in unserer Gesellschaft wird es um so wichtiger, dass die psychisch Erwachsenen unter uns ihre Rolle als Rahmenhalter und Stabilisatoren der Gemeinschaft wahrnehmen. Sie müssen den Pubertierenden Grenzen rückmelden und ihnen Vorbild sein, auf dass sie sich selbst aus der eigenen Opferhaltung heraus befreien und in das psychische Erwachsensein eintreten. Diese Reife, dieses Rückgrat benötigt es von den Führungspersönlichkeiten unserer Gesellschaft heute mehr denn je. Und das bedeutet Charakter zeigen, Konflikte annehmen, die Wahrheit sprechen, Klartext sprechen, liebevoll bleiben. Wir befinden uns gesamtgesellschaftlich im Übergang von Kindheit zu Pubertät und das bedeutet es wird rau werden, keine Frage. Das, was wir bis jetzt erleben ist erst der Anfang der entwurzelnden, aber auch befreienden Sturmflut des Relativismus, welche gerade über uns hereinbricht.


Ich möchte daher im Allgemeinen dazu ermutigen nicht an den immer neuen Auswüchsen des neuen Pessimismus zu verzweifeln und stattdessen dazu ermutigen, selbst mutig zu sein, Farbe zu bekennen, in die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen einzutreten. Der schnellste Weg aus dem Sturm heraus ist der Weg gerade in ihn hinein.



Nachtrag:

Mancher Leser wird sich sicher fragen, wie es denn nun weiter ging mit dem Chor. Blieb es beim schreiberischen Auskotzen auf dem eigenen Blog oder führte das schriftliche Durchdenken auch zu Konsequenzen im realen Leben? Und tatsächlich ist es nicht beim passiven Beschweren geblieben. Die Lust auf die Gruppe war nun erloschen und so überlasse ich die Chorproben nun wieder den Menschen, die sich in diesem Chor zu Hause fühlen. Die Mittwochabende gehören wieder mir und werden gefüllt mit, wer hätte es gedacht, dem Schreiben von Texten wie diesem hier... Oder mit Singen, ganz frei wonach und mit wem mir gerade danach ist.

 
 

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