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Hinter den Vorhang blicken (de)

  • bschult3
  • 21. Juni 2024
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Juni 2024

Was bedeutet es Mensch zu sein? Was macht das Menschliche aus? Was unterscheidet den Menschen vom Tier?


Die Frage nach dem Menschlichen ist eine andere Version der Frage "Wer bin ich?", Kernfrage der Philosophie. So wundert es nicht, dass die Frage sowohl in der Philosophie wie auch in Wissenschaften, wie der Anthropologie, oder in ethisch-politischen Debatten, wie in der Flüchtlingspolitik, immer wieder zum Vorschein kommt. Die Frage, wer wir sind, und damit auch was der Mensch ist, beinhaltet auch die Fragen dessen, was überhaupt real ist (und damit die Physik/Ontologie), bzw. was wir wissen und erfahren können (und damit die Psychologie/Epistemologie). Die Frage nach dem Menschlichen ist also durch ihre Fundamentalität einer der entscheidendsten Fragen überhaupt.


Die gegebenen Antworten auf diese Frage spiegeln wider rum jeweils die psychische Grundkonstitution der Person wider, der die Antwort vertritt. So mag ein konservativer Denker, wie Andrew Tate, das Menschliche als Streben nach Macht und Kontrolle verstehen (seiner eigenen Lebensausrichtung entsprechend), während Transhumanisten, wie David Pearce, das Menschliche in der Überwindung unserer Limitationen, wie Tod und Unzufriedenheit, zu finden meinen. Mit Hinblick auf meinen letzten Text ("Willst du Kontrolle oder Glück?") mag man in beiden die Angst vor der Ungewissheit und Kontrolllosigkeit entdecken und versteht in der Folge, warum sie das Menschliche so definieren, wie sie es tun. Es passt eben zu ihrem Selbstbild, bzw. zu ihrem psychischen Vermeidungsverhalten, ihrer psychischen Konstitution.

 

Andere Ansätze, die heutzutage viel Verbreitung finden sind, einerseits, die Idee, dass es nichts essenziell Menschliches gibt und alle Vorstellungen des Menschlichen nur Konstruktionen sind (Konstruktivismus/Relativismus), verbreitet in postmodernen Strömungen, wie der Genderbewegung. Andererseits verbreitet ist die Idee, dass der Mensch sich eigentlich gar nicht vom Tier unterscheidet und daher das Menschliche, eigentlich das Tierische ist.

 

Da ich zu relativistischen Perspektiven schon einiges geschrieben haben (siehe "Der neue 'Pessimismus'") möchte ich in diesem Text vor allem auf das letztgenannte Menschenbild eingehen, nämlich die Sicht des Menschen als Tier.


Diese animalische Sicht ist vor allem in naturwissenschaftlichen Kreisen, allen voran in der Biologie und der behavioristischen Psychologie sehr verbreitet. Es beschreibt den Menschen, entsprechend dem Tier, als ein biologisches, von determinierten Reiz-Reaktionsmustern gesteuertes Wesen. Die Motivationen des Menschen werden auf unser Bild von Tieren reduziert, Fortpflanzung, Konkurrenz um Territorien, schlussendlich ein Kampf um Leben oder Tod. Die Fähigkeiten des Menschen werden hier gleichsam als Überlebensstrategien der Evolution gedeutet. Logisches Denken, komplexe Sprache, soziales Gruppenverhalten, alles Dinge, die schlichtweg dem eigenen Überleben dienen. Dieses Weltbild ist so sehr in unserer wissenschaftlich ideologisierten Gesellschaft verankert, dass wohl kaum jemand es wagen würde ernsthaften Einspruch gegen diese Ansichten zu erheben. Diese animalistische Sichtweise auf den Menschen bedeutet aber auch, dass man unsere oben beschriebenen Fähigkeiten rein funktional begreift und ihnen damit jeglichen tieferen Bedeutungssinn abspricht (entsprechend der Tiere). Der Mensch denkt lediglich deshalb logisch, weil es praktisch für ihn ist, weil es ihm hilft in einer lebensfeindlichen Welt zu überleben. Denken ist nichts als eine Funktion des biologisch-evolutionären Überlebenstriebes, welchen wir mit den Tieren, wie mit der gesamten belebten Welt teilen. Es hat keinen Selbstzweck. Es hat keinen eigentlichen Sinn (jenseits seiner Funktion zum Überleben). So könnte man das naturwissenschaftliche Menschenbild auf den Punkt bringen.

 

Von dieser Sichtweise ausgehend kann man auch nachvollziehen, warum viele Wissenschaftler meinen, menschenähnlich bewusste Roboter entwickeln zu können. Funktionen lassen sich leicht mit Maschinen oder Algorithmen realisieren. Die funktionale Sichtweise entspringt in gewisser Weise sogar aus dem mechanistischen Weltbild, bzw. ist unmittelbar mit ihm verbunden. Eine Maschine zeichnet sich durch ihre Funktion aus. Ein Kühlschrank kühlt. Eine Nähmaschine näht. Eine Presse presst. Eine Maschine, die ihre Funktion nicht erfüllt, bzw. nicht erfüllen kann, kann kaum als solche bezeichnet werden. Ein Kühlschrank, der nicht kühlt, ist eben kein Kühlschrank mehr, bzw. hat seinen Zweck verloren. Und ein Kühlschrank ist erst recht keine Nähmaschine, da er auch niemals nähen können wird. Eine Maschine definiert sich also durch ihre Funktion.


Aber lässt sich das so einfach auf Lebewesen übertragen und erst recht auf den Menschen? Ist die Funktion des Hundes sein Bellen? Oder die Funktion des Schmetterlings herumzufliegen? Man merkt schon, dass dies irgendwie seltsam zumutet. Eine Funktion existiert nämlich immer nur in Bezug auf einen Nutzer. Eine Maschine ist ein funktionales Objekt FÜR den Menschen, der sie nutzt. Eine Nähmaschine hat eine Funktion für uns Menschen, aber für sich selbst, ohne einen Menschen, der sie nutzt, bleibt sie funktions- und sinnlos. Eine Nähmaschine existiert für den menschlichen Benutzer, nicht für sich selbst. Sie ist Objekt in Bezug auf das Subjekt, den Menschen. Eine Maschine ist kein Subjekt für sich.


Bei Lebewesen ist dies jedoch anders. Der Schmetterling, genauso wie der Wolf oder die Eiche existieren für sich. Sie existieren und handeln aus sich selbst heraus, ohne eine direkte Abhängigkeit zu einem menschlichen Benutzer. Im Gegenteil, der Akt ein Lebewesen, vor allem einen anderen Menschen, zu einem reinen Objekt unserer Absichten zu degradieren ist immer begleitet von einem Gefühl der Skrupellosigkeit. Wir spüren, dass wir etwas Lebendiges, etwas Eigensinniges missbrauchen und es damit in seiner Würde (und dadurch auch uns in unserer eigenen Würde) verletzen. Wir spüren, dass wir mit unserer Objektivierung etwas Falsches tun, etwas gegen den Willen des von uns objektivierten Wesens selbst, etwas gegen die inhärente Moralität der Welt, aber vorallem auch etwas gegen uns selbst. Wir Menschen wollen einander und der Welt begegnen und sie nicht missbrauchen. Derjenige der andere missbraucht, missbraucht sich deshalb immer auch selbst (und wird dies mindestens durch sein Gewissen zu spüren bekommen).

 

Wir können Lebewesen, und damit erst recht den Menschen, also nicht allein durch seine Funktion begreifen, vor allem, weil dies gegen unser eigenes Bedürfnis ist. Damit zeigt sich aber auch, dass die rein evolutionär-funktionale Sichtweise des Menschen nicht stimmen kann. Dieses Menschenbild ist im Grunde eine Vergewaltigung des eigenen Menschenseins, und damit ein Ausdruck einer feindlichen Haltung gegenüber sich selbst und der Welt.

 

Das Bestreben, den Menschen als Tier zu sehen, legt auch nahe den Menschen als Mangelwesen zu begreifen (ohne Krallen, schützenden Pelz, etc.) und unseren inhärent menschlichen Eigenschaften, wie Selbstbewusstsein, selbstreflektiertes Denken, komplexe Sprache, usw. ihren Wert abzusprechen. In diesem Menschenbild wird das sich selbstreflektierende Bewusstsein, und die menschliche Tendenz des ewigen Hinterfragens als Laster wahrgenommen. Man wünscht sich zurück unter die Schwelle der Selbstreflexion, der Erkenntnis der eigenen Unwissenheit und Vergänglichkeit. Man wünscht sich wieder Tier zu sein, getragen von untrüglichen Instinkten, frei von der Pein der Frage, des Denkens und des Zweifelns. Da man diese Wahl als Mensch nicht hat, liegt der Versuch nahe sich auf das Tierische zu reduzieren, auf die Triebe nach Nahrung, Dominanz und Fortpflanzung. Das Fragen, das Denken und das Zweifeln werden in dieser Sichtweise also als Fehler gesehen. Man geht davon aus, dass Denken, Zweifeln und Fragen zu nichts führen können, dass sie sinnlos sind, dass sie uns lediglich belasten.


Auf diesem Menschen- und Weltbild fußt auch unser gesellschaftlich-gewöhnliches Verständnis von Bildung und Philosophie. Ein Schüler wird in unserer Gesellschaft im Allgemeinen als Objekt der Wissens- oder Fertigkeitsanhäufung gesehen. Bildung ist gut, wenn der Schüler am Ende seiner Schulkarriere viel weiß und kann, also höchst funktional ist. Der Schüler ist funktionales Objekt für die Interessen der Gesellschaft, das heißt Objekt der Interessen anderer geworden. Die anderen können hier alle Parteien sein, die ein solches Bildungsverständnis unterstützen bzw. meinen davon zu profitieren, wie Politiker, Unternehmer, Eltern, etc. In dieser Reduzierung des Schülers (eines Menschen also!) auf seine gesellschaftliche Funktion vollziehen wir also einen Missbrauch. Wir missbrauchen Kinder für unsere eigenen, funktionalen Interessen. Was die wenigsten davon verstehen ist, dass ein Missbrauch an anderen eben immer auch ein Missbrauch an sich selbst ist. Am Ende leiden wir mit den leidenden Kindern mit, zumindest wenn wir uns aus unserer eigenen Sozialisierung emanzipiert haben und wieder fähig sind Mitgefühl zu empfinden. Dann wird einem dieser Missbrauch absolut klar. Ein solcher Umgang mit anderen, und vor allem mit Kindern, wird immanent schmerzhaft. Das Erlischen des Leuchten in den Augen der aller meisten Kinder und ihr Mangel an Neugier und Selbstbewusstsein schon nach wenigen Jahren Schule ist plastischer Beweis dafür. Viele Eltern und Lehrer würden dieser Analyse wohl widersprechen, doch gibt es wohl kaum Kinder, die das Gefühl haben, dass es in der Schule um sie selbst geht, dass sie frei sind, und ermuntert werden sich nach ihren eigenen Interessen zu entwickeln. Die Existenz von Lehrplänen, Benotungen und der allgemeinen Begeisterung für schulfreie Tagen ist deutlicher Ausdruck der Unfreiheit und Menschenfeindlichkeit unseres allgemeinen Schulsystems. Echtes Interesse an sich selbst und der Welt wird in der Schule zynisch belächelt. Die Neugier und das ‚kritische Denken‘ reichen bis zu den Grenzen der Überzeugungen des Lehrers, des politisch korrekten Lehrbuchs und der Ideologie des Staates. Es herrscht eine Atmosphäre der Lernfeindlichkeit, wer wirklich neugierig ist, ist uncool, wird gemobbt. Wie in einer propagandistischen Diktatur im Großen, geben die Schüler im Kleinen ihre Indoktrinierung an ihre Mitschüler weiter, der Missbrauch von oben wird weitergegeben an den Schulkameraden neben sich. Gruppen- und Konformitätsdruck sind das Resultat. Die freie, individuelle Selbstentfaltung des Einzelnen wird systematisch unterdrückt, der eigene Lernprozess in vorgegebene Bahnen gezwängt. Am Ende der Schulzeit weiß man, was man lernen sollte, aber nicht was man lernen will. Man weiß, wie man sich ‚richtig‘ verhält, man weiß, wie andere einen wollen, aber nicht wer man selbst ist. Wenn ich an unser Schulsystem und die inhärente Unmenschlichkeit und den Missbrauch gegenüber unseren Kindern denke, kommt mir bald das Kotzen. Also widme ich mich jetzt dem nächsten Thema, der Philosophie.

 

Das funktionalistisch-reduktionistische Weltbild fußt in einem Misstrauen in unsere intrinsisch menschlichen Eigenschaften, wie Neugier und Mitmenschlichkeit. Aus Neugier heraus nach dem Wesen der Welt und des eigenen Selbstes zu fragen wird zynisch als sinnloses Unterfangen, als aussichtlose Spielerei betrachtet. In dieser Denkweise verkommt somit auch die Philosophie, die Manifestation der Neugier und des Hinterfragens selbst, zu einer Randerscheinung oder Literaturwissenschaft. Philosophen präsentieren sich als Experten für das Denken Hegels oder Schopenhauers, für Günther Anders oder Michael Foucault. Wenn wir vom „Philosophieren“ sprechen, meinen wir eine konsequenzlose Gedankenspielerei, nicht mehr die individuelle, radikale und lebensverändernde Suche nach der Wahrheit, nach dem, was hinter den Dingen liegt, nach Sinn, nach Gott. In der zynisch-funktionalistischen Weltsicht nehmen wir die Philosophie nicht ernst, da wir davon ausgehen, dass es keine Antworten auf die großen Fragen gibt. Man geht davon aus, die Sehnsucht nach Verstehen wäre vergeblich, die Suche, ebenso wie das menschliche Leben an sich, wäre sinnlos. Nur so konnte die Philosophie im Reich des Akademischen, zu dem zahnlosen Tiger werden, der sie heute ist. Unrelevant, uninteressant, lebensfern. Vergangen die Zeiten, in denen Philosophen vor allem große Menschen waren, Charaktere größter Strahlkraft, positive Vorbilder für ihre Mitmenschen und Leuchttürme des Menschseins. In philosophischen Diskussionen traut sich kaum noch wer persönlich zu werden und noch weniger ‚Philosophen‘ reagieren positiv auf eine persönlich werdende Diskussion. Woran liegt das? Genau daran, dass für die meisten ihre philosophischen Ansichten (womit sie sich identifizieren) und Lebenspraxis auseinanderfallen. Philosoph zu sein, bedeutet Philosophie zu leben. Es bedeutet sich seiner menschlichen Bedürfnisse nach Erkenntnis anzunehmen und sich ihrer Erfüllung zu verschreiben. Es bedeutet Mensch zu sein. Philosoph sein bedeutet in keinem Fall, schlau daher zu reden, am besten noch möglichst kompliziert und akademisch. Es bedeutet nicht sich tolle, neue Theorien auszudenken. Es bedeutet nicht ‚wissenschaftlichen Fortschritt‘ in Form von Papern voranzutreiben, sondern sich auf den Weg zu machen sich selbst zu erkennen, durchlässig zu werden für die Liebe Gottes (oder wie auch immer man es nennen will), die uns alle erfüllt. Philosoph zu sein, bedeutet Mensch zu sein. Es bedeutet hinter den Vorhang der Welt zu blicken. Der Mensch strebt nach Erkenntnis. Deshalb sind wir neugierig und deshalb stellen einem Kinder Fragen bis zur Verzweiflung (oder bis man sie ausreichend dafür bestraft hat). Dieses Bedürfnis ist kein Zufall der Evolution und dient nicht allein funktionalistischen Gründen der Biologie. Der Drang nach Erkenntnis ist Selbstzweck des Menschen. Es ist der Ausdruck des Geniestreich Gottes sich in seiner menschlichen Form selbst erkennen zu können (und zu wollen). Unsere natürliche Neugier ist daher der direkte Weg das Schönste in der Welt zu erfahren, nämlich die Erkenntnis des eigenen Selbstes, der eigenen Gottähnlichkeit, der alles durchdringenden Liebe.

 

Statt undurchdachten, zynischen, funktional-biologistischen Welterklärungen blind zu folgen, ist es an der Zeit wieder in das intrinsisch Menschliche zu vertrauen. Traue dich also in dich, in deine Bedürfnisse, in deine Neugier zu vertrauen. Sie ist dein größtes Geschenk. Traue dich nach dem Grund der Dinge zu suchen. Traue dich deine Mitmenschen und dich selbst zu hinterfragen. Traue dich nach Weisheit und Einsicht zu streben. Traue dich hinter den Vorhang des Oberflächlichen zu blicken.


Genau deshalb bist du hier. Genau deshalb bist du Mensch.

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